Im Himmel der glücklichen Frauen

1
Sterben, wenn das Leben am schönsten ist. Das wünschen sich viele, aber nur wenigen ist es vergönnt. Lina war eine von diesen wenigen, da bin ich mir sicher.
Ich habe sie am Lago Maggiore kennen gelernt, genauer gesagt am Lido von Cannobio am Lago Maggiore. Ich hatte den halben Nachmittag gesurft. Mir war die elegante ältere Dame im schwarzen, gut geschnittenen Einteiler schon die ganze Zeit aufgefallen, weil sie immerzu in meine Richtung schaute. Als ich meine Surfsachen zusammenpackte, sprach sie mich an und lud mich zu einem Campari Orange ein. Wir tranken ihn zusammen in der Strandbar.
Es war unglaublich, wie gut wir uns vom ersten Augenblick an verstanden haben. Wir brauchten uns nur ein Stichwort zu geben und schon fing das Feuerwerk an. Sie war gebildet, geistreich und konnte sagenhaft gut mit Worten umgehen. Ich kann das auch, und so entstanden von Anfang an die schönsten Sprachspiele zwischen uns.
Sie lud mich gleich in ihr Haus ein. Es war ein altes Rustico, nicht groß, aber stilvoll renoviert. Man merkte sofort, dass hier Geschmack und Geld zusammenkamen. Sie gestand mir ohne Umschweife, dass sie sich in mich verliebt habe. Überhaupt besaß sie die Fähigkeit, in wichtigen Dingen keine Umwege zu machen. Und so landeten wir schon am ersten Abend im Bett.
Wir trafen uns von da an jeden Tag am Lido. Ich konnte spüren, wie sie es genoss, mit mir zusammen zu sein. Auch äußerlich passte es. Von mir kann ich sagen, dass ich recht gut aussehe, sie hatte sich für ihr Alter sehr gut gehalten. Und sie blühte regelrecht auf in unserer gemeinsamen Zeit. Ich glaube, sie gab auch ganz gern ein bisschen mit mir an, vor allem wenn Frauen in ihrem Alter in der Nähe waren.
Ich hatte damals gerade keinen Job und war ziemlich abgebrannt. Lina war auch in dieser Hinsicht ein Glück für mich. Und sie gab mir das Gefühl, dass ich ein Glück für sie war.
„Frühlingsgefühle“, sagte sie, „ich hab Frühlingsgefühle.“

2
Wir heirateten noch im selben Jahr. Ihr konnte es gar nicht schnell genug gehen. Sie war schon seit einigen Jahren Witwe. Ihr Mann war ein großes Tier bei der Deutschen Bank gewesen und überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Von ihm erfuhr ich nicht viel, außer dass er ihr eine schöne alte Villa im Frankfurter Nordend und ein dickes Aktienpaket plus Bankkonto hinterlassen hatte. Kinder waren zum Glück keine da.
Unsere Hochzeit feierten wir im kleinen Kreis, weil ihre Verwandten sie allesamt boykottierten. Eine Siebzigjährige, die einen Dreißigjährigen heiratet! Das fanden sie obszön, das war ein öffentlicher Skandal! Lina nahm es erstaunlich gelassen. Sie habe von dieser Mischpoke nichts anderes erwartet, sagte sie.
Sie war es auch, die sehr bald ein Testament machte, in dem ich als Alleinerbe eingesetzt war. Ihr Kommentar war: Wenn ich mal sterbe, sollst du alles kriegen. Diese Heuchler – damit meinte sie ihre Geschwister plus Anhang – werden sich schwarz ärgern, wenn sie in die Röhre schauen.
Aber vorerst konnte von Sterben nicht die Rede sein. Sie würde sicher hundert Jahre alt werden, gesund und fit wie sie war.
Habe ich sie geliebt? War ich glücklich mit ihr? Auch mit etwas zeitlichem Abstand kann ich beide Fragen mit ja beantworten. Wir hatten zwei wunderbare Jahre, vor allem wenn wir am Lago Maggiore waren. Und wir waren oft da. Wir machten Wanderungen, unternahmen Fahrten in die Umgebung, kochten zusammen und fühlten uns wie zwei frisch Verliebte. Bei jedem unserer Aufenthalte setzten wir uns mindestens einmal in die Strandbar und nahmen in Erinnerung an unser erstes Treffen einen Campari Orange, ihr Lieblingsgetränk.

3
Ich erinnere mich noch sehr gut an unseren letzten Abend. Nach dem Abendessen machten wir einen ausgezeichneten Barolo auf und unterhielten uns über das Leben, die Liebe und die Vergänglichkeit, die großen Themen der Literatur. Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, umarmte sie mich und sagte:
„Wenn ich jetzt auf der Stelle tot umfalle, könnte ich mich über mein Leben nicht beklagen.“
Da wusste ich, dass die Zeit gekommen war.
Beim Frühstück am nächsten Morgen gab ich ihr die zwanzig Tropfen in den Kaffee. Walter hatte mir gesagt, es sei ein neues, sehr starkes Narkosemittel mit verzögerter Wirkung. Er ist Arzt, Anästhesist, und kommt an so etwas heran. Zwanzig Tropfen würden genügen. Spätestens zwanzig Minuten, nachdem ich sie ihr verabreicht hätte, sollten wir im Wasser sein, hatte er mir eingeschärft. Und so geschah es dann auch.
Ich schlug Lina vor, zum Lido von Cannobio zu fahren und im See ein Morgenbad zu nehmen. Es war nicht das erste Mal, dass wir das machten. Wir brachen sofort auf. Es war ein strahlender Morgen mit einem Sonnenaufgang, wie man ihn nur am Lago Maggiore erlebt. Am Strand war so früh niemand außer uns. Sie hatte wieder ihren schwarzen Einteiler an, der ihr so gut stand. Wir schwammen hinaus, der Sonne entgegen. Sie sagte noch zu mir:
„Schau mal nach unten, der See ist ganz schwarz.“
Ungefähr zweihundert Meter vom Strand wurden ihre Schwimmbewegungen langsamer. Sie fasste sich kurz an die Stirn, als wolle sie einen Gedanken verscheuchen, dann versank sie ohne einen Laut.
Beim Zurückschwimmen ließ ich mir Zeit. Später saß ich lange auf den Steinen am Lido. Die Sonne wurde immer stärker und trocknete mich. Als die ersten Badegäste kamen und ihre Utensilien ausbreiteten, ging ich zur Strandaufsicht und meldete Lina als vermisst.
Sie wurde nie gefunden, obwohl die Polizei und die Guardia di Finanza den ganzen See vor Cannobio absuchten. Der Lago Maggiore ist hier am engsten und hat starke Unterströmungen. Lina war zu der Zeit, als sie mit der Suche anfingen, womöglich schon in der Gegend von Cannero.

4
Ich lebe jetzt schon seit einiger Zeit mit Walter im Frankfurter Nordend. Wir haben die Villa nach unserem Geschmack renoviert. Es war ja genug auf dem Konto.
Inzwischen haben wir geheiratet. Linas Verwandtschaft schäumte, aber sie konnten nichts machen. Es war alles legal. Eine der wenigen Sachen, die ich Lina verschwiegen hatte, war die, dass ich eigentlich auf Männer stehe. Aber ich kann auch mit Frauen. Wenn Lina mich brauchte, war ich immer da. Sie kam mir aber auch entgegen mit ihrem Typ: jungenhaft, sportlich, wenig Busen, kaum Hüften, das graue, sehr kurz geschnittene Haar …
Als ich sie kennen lernte, gab es Walter allerdings noch nicht. Ihn habe ich im Herbst letzten Jahres am Lido von Cannobio getroffen, als Lina eine ihrer ausgiebigen Shopping-Touren in die Schweiz unternahm. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eigentlich habe ich die ganze Sache nur seinetwegen gemacht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich es mit Lina noch ein paar Jährchen ausgehalten. Aber Walter wurde eifersüchtig und drängte. Das mit den Tropfen war seine Idee. Ich kam dann ganz von selbst auf das Schwimmen am Morgen.
Ich werde dieses Jahr zum ersten Mal mit Walter in mein Haus am Lago Maggiore fahren. Gleich nach unserer Ankunft werden wir uns in die Strandbar setzen und einen Campari Orange trinken. Auf das Wohl von Lina, die wahrscheinlich im Himmel ist. Wo sonst sollten Frauen hinkommen, wenn sie glücklich sterben?

 

(c) Paul Pfeffer